Jörg Ulrich 1954 – 2010

Nun, da unser Buch (Petra Haarmann, Jörg Ulrich, Gerold Wallner: Gültige Aussagen) fertig und Jörg nicht mehr am Leben ist, müssen wir erklären, dass er immer daran mitgemacht hat, auch als er nicht mehr physisch anwesend war.

Es soll keine leere Floskel sein, wenn wir das sagen, es soll auch nicht die hohle Formel angewandt werden, nach der das Wirken eines Menschen ihn weiterleben lässt und die dann in Anschlag gebracht wird, wenn eins sonst nicht viel zu sagen weiß. Wir wissen sehr viel zu sagen über seine Anwesenheit, die sich vor allem in seinem Fehlen ausdrückt; so, dass er und sein Fehlen jetzt eins sind, so, dass er in seinem Fehlen da ist. Was alles natürlich noch viel schwieriger macht: Wie sollen wir uns mit einem Fehlen darüber freuen, dass das Werk, an dem wir zehn Jahre gearbeitet haben, nun gedruckt vorliegt, wie sollen wir mit einem Fehlen darauf anstoßen, dass alles so wurde, wie wir uns das vorgestellt haben und dabei ganz und gar anders – bis hin zur Tatsache, dass wir nun zwei Lebende und ein Fehlen sind?

Ich habe lange gezögert, über Jörg etwas zu sagen und auf dieser Seite zu veröffentlichen, was der leider viel zu kurzen Freundschaft entsprochen hätte, und zwar aus zwei Gründen. Ich war zu traurig und es ging keins auf der Welt etwas an.
Jetzt nur soviel dazu: Ich mag keine lauten Menschen und zieh mich vor ihnen zurück. Jörg war laut und ich habe mich jedes einzelne Mal darauf gefreut.

Dass das Buch ohne ihn nicht hätte entstehen können, ist eine Binsenweisheit und daher von Grund auf falsch. Die Wahrheit ist, dass das Buch mit ihm entstanden ist, egal welche Form er dabei angenommen hat.

Robert Kurz 1943 – 2012

Wenn ein Mensch tot ist, bleibt das, womit er weiterlebt: seine Werke, sein Ruf, seine Nachkommenschaft.

Robert Kurz ist tot. Seine Werke, sein Ruf, seine Nachkommenschaft, dies alles fällt bei ihm in eins, wird besprochen, tradiert und weitergegeben werden und macht ihn so zu einem kollektiven Wesen, das sich nicht mehr gegen die Vereinnahmung wehren kann. Er lebt in der Erinnerung weiter und in dem, das er hinterlassen hat an Büchern und auch an Menschen, die von ihm gelernt haben und die von ihm angeregt oder abgestoßen wurden. Robert Kurz war wichtig für einen Gedanken, den er in der deutschsprachigen Linken verankert hat; dass nämlich die Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx allein nicht ausreicht, um die bürgerliche Gesellschaft korrekt und umfassend zu beschreiben. Dieser Gedanke wurde unter dem Drängen und der genauen und beständigen Mitarbeit von Roswitha Scholz, deren Beitrag gar nicht hoch genug geschätzt werden kann, zu seiner theoretischen Form gebracht. Abspaltungskritik – also die Beschreibung des der bürgerlichen Epoche eigenen Geschlechterverhältnis – und Aufklärungskritik – also das strikte Verneinen, dass aus bürgerlicher Vernunft noch eine Entwicklung dieser Gesellschaft zu erwarten sei, geschweige denn eine Entwicklung über sie hinaus – traten so neben eine marxistisch fundierte Wertkritik. Dazu wurde versucht, mit der Fetischkritik – also der Beschreibung von Matrizen für das unbewusst-gemeinschaftliche gesellschaftliche Verhalten – die Gesamtschau auf unsere Zeit abzurunden.

Ein zweiter wesentlicher Einwurf von Robert Kurz zur Gesellschaftskritik war die Formulierung einer Krisentheorie, die im Inneren des Kapitalismus selbst eine immanente Schranke sah und beschrieb, eine Schranke, die eine positive Weiterentwicklung dieser Produktionsweise aus ihrer eigenen Dynamik heraus verunmöglichte, vielmehr zu Abschluss und Funktionsverlust führen würde. Viel gescholten, dass er damit einem Attentismus Vorschub leiste, bedeutete dies aber doch den immer wieder die traditionelle Linke störenden Verweis, dass es keinen Hausfrieden geben könne, dass da nichts wäre, worin sich wohnlich einzurichten sei, dass wir, ZeugInnen einer finalen Krise des Kapitalismus, uns wegen dieser Zeitgenossenschaft mit Fragen des Zusammenbruchs und des Überschreitens von Systemschranken zu beschäftigen hätten.

Robert Kurz war mit dieser seiner heftigen Radikalität und Konsequenz im deutschen Sprachraum ein Solitär, wenn auch nicht unbedingt ein Einzelgänger. Er formulierte immer in persönlichen Zusammenhängen und produzierte immer im Kreis von Vereinen und Redaktionen, die er zur Unterstützung und Inspiration seines Werks brauchte. Auch außerhalb des deutschen Sprachraums gab und gibt es ähnliche Menschen wie ihn, die ähnliche Ansichten zur Diskussion stellen und vertreten. Robert Kurz hat immer dafür gekämpft, dass seine Sichtweisen und Formulierungen unverfälscht, wie er sie sah, weitergegeben werden, und mit dieser Rigidität auch Verstörung ausgelöst. Manchen erschien sein Anspruch, die Speerspitze bei der Weiterentwicklung der Gesellschaftskritik über Marx hinaus zu sein, unbescheiden. Goethe sagt dazu: „Nur die Lumpe sind bescheiden, Brave freuen sich der Tat.“

Gazsi 1948 – 2023

Tamás Gáspár Miklós stand in traditioneller ungarischer Art, die den Familiennamen vor die Taufnamen setzt, auf dem Türschild seiner Budapester Wohnung. Als G. M. Tamás wollte er zitiert werden, wenn es um Publikationen außerhalb Ungarns ging (er hat mir einmal ein wenig verärgert erklärt, dass er für sich bloß in Anspruch nehme, was auch für H. C. Artmann gegolten habe; dabei war er Zeitgenosse genug, nicht E. T. A. Hoffmann ins Treffen zu führen). Gazsi war er für die, denen er diese Ansprache zugestand.


In seinem Leben (und dem seiner Eltern, denen er sich liebevoll verbunden gefühlt hatte) spiegeln sich alle Aporien des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts wider. Jüdischer Intellektualismus und marxistischer Kommunismus, gebunden an die Traditionen der Arbeiterbewegung und an eine bürgerliche philosophisch-künstlerische Bildung; eine profunde Ablehnung (mère, père et fils) der nationalen und nota bene nationalistischen Beeinflussungen der kommunistischen Utopien des internationalistischen Ideals durch die nationalstaatliche Entwicklung der UdSSR und ihrer Vasallen und Glacisstaaten; eine Treue zur Vorstellung einer nicht bürgerlichen Gesellschaftsordnung und der verzweifelte Versuch, die Utopie des Kommunismus von seiner sozialdemokratisch-revolutionären (trotzkistisch oder bolschewistisch) oder sozialdemokratisch-revisionistischen Form (transatlantisch und EU-imperialistisch oder real-sozialistisch) zu lösen und als Ziel zu bewahren; und was da mehr an Widersprüchen …


Ich durfte einige seiner luziden Überlegungen übersetzen und im Verlagshaus Mandelbaum herausgeben. Aber als wichtigster Beitrag in diesem Band erscheint mir die Übersetzung eines Interviews Gazsis mit der New Left Review (https://www.mandelbaum.at/buecher/gaspar-miklos-tamas/kommunismus-nach-1989, im Original https://newleftreview.org/issues/ii80/articles/g-m-tamas-words-from-budapest), das genau diese biographischen Verwerfungen, die für unser Jahrhundert so furchtbar und wohl auch typisch sind, reflektiert: in seiner ruhigen, freundlichen Art, in einem Gespräch, das jedes verhärmten Ressentiments entbehrt und stattdessen Liebe und Humor zu Wort kommen lässt.


Gazsi war jenseits seiner Freundlichkeit und Zuvorkommenheit ein höchst gebildeter Mensch – als selbst deklarierter Vertreter eines Proletariats mit marxistisch-utopischer Ausrichtung wohl gebildeter als die meisten seiner ZeitgenossInnen. Er war dabei den jungen VertreterInnen dieser Tradition in großer Zuneigung zugetan, einer kritischen Zuneigung, die doch ausgesprochen tief und ehrlich und vor allem hoffnungsvoll war.


Er befleißigte sich im Umgang mit den anderen Menschen einer überwältigenden Höflichkeit, die immer wieder sehr formell daherkam und auch unangenehm wirken konnte; gleichzeitig lauerte hinter dieser formellen Höflichkeit ein nie zu hintergehendes freundliches Interesse und interessierte Freundlichkeit.
Wo diese Höflichkeit dann doch nicht in Anschlag gebracht wurde, zeigte sich plötzlich ein großartiger Humor: Als ich ihn eines Tags vom Bahnhof in Bruck an der Leitha (bei Hašek Királylida/Bruckneudorf) zu einem Treffen mit anderen Linken abholte, bei dem Positionen zur Veränderung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse diskutiert werden sollten, winkte er mir, über mehrere Gleise hinweg und gerade aus dem Waggon des Zugs aus Budapest gestiegen, zu und rief: „Wir befinden uns auf historischem Boden! Hier hat sich der brave Soldat Švejk mit den ungarischen Honvéd geprügelt!“


Gazsi hat gerne Rum getrunken. Ich habe mir heute eine Flasche gekauft und werde nun, bis sie gar ist, jeden Tag ein Gläschen auf sein Gedächtnis trinken …